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on and off…

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dan perjovschi: revolutiON OFF (drawings on the wall). es lohnt sich, die slideshow zu stoppen, um die texte zu lesen…

scheinbar simpel wirken die wandfüllenden zeichnungen des rumänischen künstlers dan perjovschi auf den ersten blick. und der besucher wird sich vielleicht gefragt haben, ob jetzt sogar schon kindergekritzel ausgestellt wird. auf den zweiten blick aber und im zusammenspiel mit den nachdenklich stimmenden kurztexten, die die konflikte unserer zeit mit wenigen worten auf den punkt bringen, wirken sie erstaunlich klug. wenn nur alle twitternachrichten solchen tiefsinn schürfen würden… obschon immer noch ein bißchen unbeholfen, dienen sie doch gleichzeitig als karikaturen des elitären kunstbetriebs. aus den textzeichungen sprüht witz, geist, kritik. ihre inhalte sind hochakuell, sprachverspielt und anspielungsreich.

perjovschi hat für die werkschau in der baumwollspinnerei in leipzig eine wand und teile der decke einer alten fabrikhalle mit schwarzem textmarker und weißer kreide bemalt. dieses großflächige wortbild läßt sich kaum aus goßer entfernung entziffern. man muß relativ nah an der wand entlanggehen oder den kopf tief in den nacken legen, um alle details erfassen zu können. das eine überkopf-foto ist dementsprechend leider ein wenig in schieflage geraten, da meine marode halswirbelsäule mich an einer langen perspektivwahl hinderte.

hier sind noch zwei videos über das projekt what happened to us? von dan perjovschi in der moma (teil 1 und 2).

vorsicht, kunst! oh, schon kaputt.

einige randbemerkungen zum frühjahrsrundgang.

kunst fürs volk! so lautete einst die parole der avantgarde. joseph beuys dachte den gedanken noch weiter: jeder mensch ist ein künstler! und wo kann man die realisierung dieser vorstellungen besser beobachten als beim galerierundgang in der baumwollspinnerei in leipzig, der von anbeginn eher volksfestcharakter hatte? und so scheint es nur logisch, daß das transparent auf dem spinnereigelände am arbeiterkampftag und auch am folgenden tag fordert: an das gerät! eine vielzahl der besucher hatte das dann offenbar so interpretiert, sich selbst vorsorglich bei boesner mit künstlerbedarf einzudecken. denn kunst kann ja schon inspirierend sein. und wo kann man sonst an einem feiertag schon sinnfrei konsumieren? also ringelten sich die menschen an den kassen zu schlangen und schleppten to-do-tüten als zeichen ihrer künstlerischen ambitionen durch die galerien und ausstellungshallen. ah, sagte sich die wortfeile, es wimmelt ja geradezu vor kreativen.

unzweifelhaft brutzelten sich mir die verschiedenen rundgänge in der spinnerei und gleichsam der gestrige olfaktorisch in die nasenhärchen und über diverse rezeptoren in mein emotionales gedächtnis. in diesem kunterbunten allerei von kunst- und küchenangebot war für jeden geschmack etwas dabei. hier gönnt man sich etwa champagner oder austern.

ein aufsteller weist den weg zum bioeis, das von der farbintensität her eher an eine chemischen keule gemahnte.

bratwurstdüfte umwaberten nicht nur den eingang zur werkschau, sondern verfolgten uns bis in den letzten winkel der allerheiligsten kunsthallen. die ereignisreiche besichtigung der dort präsentierten rumänischen zeitgenössischen kunst forderte am ende ihren tribut. und weil ich keine farben und keine leinwand dabei hatte, aber meine innovativen ideen sofort umsetzen mußte, bekleckerte ich meine jacke und meine tasche großflächig mit senf. diesen ephemeren, weil umgehend wieder beseitigten kunststil, kennt man unter dem begriff eat art oder aber weniger artifiziell unter dem namen kleckerliese.

griff zu den knabbereien am tresen der werkschau. erst in der mehrdeutigen übersetzung des wortes resolution als auflösung bekommt dieses foto seinen wahren sinn, den der mitnahmementalität für alles, was nichts kostet.

warum ich kaum etwas über die kunst schreibe? nun, das kommt in einigen späteren texten. und außerdem konnten wir vor lauter kunstinteressierten, die  mit kind und kegel angerückt waren, kaum etwas davon sehen. in der masse bleibt auch nur wenig einprägsames übrig. alleine schon in die ausstellungsräume hinein zu gelangen, erforderte geschickte schlängelmanöver, weil sich etwa einige kinder vor langeweile das treppengeländer der maerzgalerie als klettergerüst auserkoren hatten.

oder mütter mit kinderwagen den frontalagriff suchten. bloß, was kann ich dafür, wenn der babysitter kurzfristig anderweitige pläne hatte?

das gefühl, von manchen themen/dingen/menschen verfolgt zu werden, kennt sicher auch fast jeder. ich bin scheinbar auf den hund gekommen. kulturhungrig zeigt sich dieses bonsai-exemplar mit herrchen in der galerie eigen+art.

aber hunde gibts freilich auch in größer und andersfarbig. dieser hier wird in der werkschau an der kurzen leine gehalten.

und der schwarze will genauso mitreden und fällt kurz nach dem ablichten mit einem artgenossen in bellende polemik. vielleicht sprechen sie ein bißchen zu laut und kläffend über die kunst und über die menschen, die ihre hunde überall mit hinschleppen. aber die übersetzung aus dem hündischen dürfte wohl eher lauten: reviermarkierung ist auch nicht mehr das, was sie früher einmal war. wir müssen nicht draußen bleiben. und das habt ihr nun davon. (r)aus!

der alte zopf mußte ebenso dran glauben. da hängt er nun an der wand. leider hatte ich die kamera nicht griffbereit, als gerade ein mann an der haarpracht schnüffelte und sie begriffelte. denn irgendwie muß man den sinn der kunst ja wahrnehmen, wenn man sie über die bloße visualisierung nicht für sich erschließen kann.

während wir von exponat zu exponat schritten, schepperte es plötzlich hinter einer stellwand. und da wir das ereignis nicht anhand der akustik einzordnen wußten, gingen wir in sichtweite. da lag das unbetitelte objekt von anca munteanu rimnic zertrümmert auf dem boden, weil ein kunstbegeisterter in der halle wie ein elefant im porzellanladen wütete. oder weil der unglücklich gewählte standort vor dem wandfüllenden, grandiosen werk revolutiON OFF von dan perjovschi (dazu morgen mehr) zum tiefsinnigen betrachten im krebsgang verleitete. oder aber, weil das kunstwerk nicht ausreichend im boden befestigt war. eine verkettung unglücklicher umstände mit dem resultat: kunst, leider kaputt.

und so hallt das graffito sicherheit macht träge! am eingang des geländes düster in uns nach. denn in diesem speziellen fall, unachtsamkeit hin oder her, hätte mehr sicherheit eine zerstörung verhindert. uns hats gereicht. und wir flüchteten vor den kulturvandalen in die natur. denn manchmal braucht man einfach eine andere sichtweise auf die dinge. auch auf die angelegentlich unheilige kunst-kommerz-konsumenten-allianz. die kulturellen gräben sind nämlich nicht mal ansatzweise verfüllt worden oder wenn, dann mit beton.

bildstörung

hassan_haddaddas triptychon ich lebe, also bin ich?*** des aus dem irak stammenden und in der leipziger baumwollspinnerei lebenden künstlers hassan haddad wirft eingangs mit dem bildtitel die frage nach der erkenntnisfähigkeit in liebesangelegenheiten auf (zweifelsohne auch auf andere lebensbereiche übertragbar). die bildnerische abwandlung von rené descartes cogito, ergo sum birgt nicht weniger ich-zweifel und verzweiflung in sich. in jeder bildfaser scheint ein dazwischen zu liegen, eine passage. türen, treppen, spiegelungen, lichteinfall, an- und ausgekleidet, liegend, stehend, herabschauend – ein mann mit maske im zwielicht zwischen zwei frauen. eine bildstörung in der harmonie. ende und anfang von träumen, räumliche trennungen und körperliche annäherungen, kommen oder gehen, vergangenheit und gegenwart ohne zukunft, zwischen künstler, bild und betrachter. die situation suggeriert einen sprachlosen zustand der leere nach einer täuschung, im moment der entdeckung, der überrumpelung. gesichtslose köpfe mit ausgelöschten oder veränderten identitäten. ein konflikt scheint bedrohlich durch bildflügel und mitteltafel zu schweben. eine heimkehr mit folgen. zerstörte gewissheit. unklare verhältnisse. verletzte gefühle. was wird? höhnisch ragt eine blüte wie ein mikrofon, wie eine aufforderung zum sprechen, zum verhandeln in den rechten flügel. durch das glas der tür erscheint die kissenform wie ein überdimensionaler weiblicher hintern. auf dem sofa im dunklen raum liegt abgewendet eine frau. schläft sie? weint sie? wartet sie? diese simultaneität von ruhe, spannung, verharren und chaos… und nicht mehr die sinnes ermüdende frage, ob ich lebe und bin. federführend ist nicht das bloße sein,  sondern die fragen nach dem: wie lebe ich und mit wem? ein variables, materialistisches lebensdesign mit episodenhaften neuentwürfen.**

***das bild war in der werkschau 2009 in der baumwollspinnerei ausgestellt und ist hier besser, weil frontal zu sehen.
**  nur ein paar gedankenspiele zur zeit, zur individuellen stimmung, zum wunderbaren, melancholie erweckenden bild…

adams fall (evas auch)

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das bild ‚adam‘ stammt aus dem zyklus ‚verführung und sünde‘ des ukrainischen malers alexander karawanskij, der seit zehn jahren in leipzig lebt und wurde bei der werkschau in der baumwollspinnerei ausgestellt. adam als der biblische stammvater aller menschen lebt den sündenfall immer und immer wieder. das symbolistische bild zeigt ihn als einen psycho, ob seiner wahnvorstellungen in eine zwangsjacke gesteckt. sein alter ego wird als schatten mit einer krone auf dem roten quadrat umrissen. das rote viereck ist eine anspielung auf kasimir malewitschs abstraktes gemälde, der sich damals in seinem manifest von der kunst mit naturabbildungscharakter abkehrte. adam erhält mit den geschminkten roten quadraten um die augen einerseits einen clownesken ausdruck, obendrein aber auch etwas von einem borderliner. die dreifache darstellung des roten quadrates könnte ebenso einen bezug zum medienwahn darstellen. adams blick wirkt zugleich weltabgewandt, arrogant, verhöhnend; nach dem motto ich bin eure erbmasse, seht, was ich erschaffen haben. um das rote quadrat scheint sich eine eislandschaft zu bilden. einen besonderen rahmen bildete die wandmalerei im stil von street art, die mich sehr an die milieustudien von george grosz erinnerte, vor allem an die darstellung der bordellexzesse in ‚eva‘ mit seinen typischen großstadtszenen.

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leider war ich da säumig bei der recherche, bitte das zu verzeihen. wenn jemand weiß, von wem das  wandbild stammt, bitte unbedingt mitteilen. dann trage ich das nach. zu sehen ist eine bildcollage, die man kurz und knapp mit sex, crime and many drugs bezeichnen kann. das reicht von einer gefangenenszene kurz vor einer exekution, über verschiedene sexuelle spielformen, den dualshock-controller einer playstation, der mit einem sensenmann gekoppelt wurde, bis hin zu  den gesichtern von fans in kollektiver massenekstase bei konzerten.

die verführungsmittel mögen sich in der zwischenzeit durch mediale vernetzung verfielfacht und verändert haben. meistens bekommt man nach dauerberieselung allerdings den eindruck, das leben bestünde nur noch aus orgien, skandalen und allgemeiner verrohung. der moment für den großen auftritt der sittenwächter, deren leben von reinster un:schuld blitzeblank funkelt. da sind wir wieder bei schwarz und weiß und den graustufen angekommen. die medien zeigen größtenteils nur noch die aus:schnitte der welt, die verkäuflich sind an uns wa:h:renmenschen. der einschalter bestimmt das programm in gewisser weise mit durch die quote. wenn ein großteil nur zuschaut, um sich hinterher köstlich die kleidung mit dem lästerblut zu besabbern, welchen sinn macht dann die fernbedienung? oder der on-off-modus? ich bin dann mal offline und hoffe, daß ich morgen wieder nachrichtenseiten aufrufen kann, auf denen nicht die fotos der schönheitschirurgisch entstellten visage des popidols m.j. prange:r:n. nur der tod kennt keinen unterschied zwischen prominent und unbekannt. so viel gerechtigkeit muß sein.

kultobjektkunst

zynisch blickt der künstler marcel tasler auf unsere gesellschaft. er präsentierte bei der werkschau in der baumwollspinnerei in leipzig eine gallenbittere assemblage, die sich umfassend mit weltanschauungen, religion, gesellschaft, politik, konsum, werbung und indoktrination auseinandersetzt. leider war der standort für sein objektkunstwerk ziemlich unglücklich in einem engen gang gewählt (oder gehörte es dazu, daß ich mich fotografierend  immer mit dem rücken an der wand lang, von oben bis unten mit weißer kreide beschmierte?), so daß ich hier mit zwei fotos aufwarten muß, um einen eindruck zu vermitteln.

flipper2auffällig sind zunächst die verschiedenen kreuzformen und kultobjekte. kirchenkreuz und hakenkreuz als kultiges interieur. die untere schublade des raumteilers läßt sich nach belieben herausziehen, um die rechte gesinnung je nach laune zu offenbaren oder schlecht zu kaschieren. auch die tigerente wurde in hakenkreuzform angefertigt. sie ergänzt das dunkelbraune nationalistisch-unheimelnde mobiliar um die thematik des markenkultes. ebenfalls als dekoration sehen wir oben links den heiligen gral aus weißem glas mit pompons, der zugleich die geschichte der mythen refklektiert. daneben steht ein füllhorn, das überfluß und reichtum als maß des glückes symbolisiert. an den wänden hängen drei bilder. eine silhouette mit einer menschenkette aus anhängern des rassistischen geheimbundes kuk-klux-klan. darüber die persiflage auf die fernsehreligion mit den film- bzw. serienstars flipper (delphin) und lassie (collie, falsche schreibweise oder meine fehlinterpretation).

flipper1im rechten bereich des wandelbaren hakenkreuz-raumteilers sehen wir eine stoffpuppe liegen. sie ist vollkommen verstümmelt, und erinnert – klein und unscheinbar wie sie ist – an die opfer (auch des faschismus). sie liegt im halbdunkel, fast dem vergessen anheimgegeben. an der wand das dritte bild, eine kombination aus typischem landschaftskitsch und heimatgedöns, allerdings verfremdet. diese heile eia-popeia-welt existiert nicht mehr für den denkenden menschen. die landschaften sind mit müll überzogen. der mensch hat den blick für die naturschönheit verloren, mit einer schwarzen mülltüte über dem kopf. die bildsprache scheint einfach und ist in ihrer menge dennoch verwirrend. alle dargestellten themen haben nicht an aktualität verloren. die theologin, friedens- und umweltaktivistin dorothee sölle benannte diese gesellschaftlichen tendenzen denn auch als christofaschismus.

als ich all diese un/menschlichen schöpfungen angeordnet sah, war ich erschöpft. zwar fehlt die kreisform des hamsterrades, der kreis ohne anfang und ende, die unendlichkeit. aber eben gerade dieser mangel verweist auf die eigene endlichkeit, in der man sich der tyrannei in vielfältigster weise aussetzt, oft ohne aufzubegehren oder erst, wenn es zu spät ist, wenn die verluste die eigene existenz bedrohen. das prinzip hoffnung befreit leider nicht von der eigenverantwortung. hoffnung ist keine ergebenheit gegenüber einem unabänderlichen los. äußere anpassung, das zeigt die ungemütliche inneneinrichtung, zieht unweigerlich auch eine vereinnahmung und verstümmelung der denkweise nach sich. gleichschaltung lautet hier die altbekannte gefahr, der außenzensor wird zum innenzensor, weil man auf keinen fall seine bequemlichkeit, seine  innere ruhe aufgeben möchte. freiheit mit einem schwarzen müllsack über dem haupt? wie soll das bitte gehen? ich ziehe das düstere plastikding jetzt mal wieder vom kopf runter und atme tief durch. schon viel besser! ich sehe die götzenbilder und versuche sie mit röntgenblick zu analysieren.

blauschimmer

tiefe eindrücke hat die heute merkellose werkschau der künstler aus der baumwollspinnerei zum 125-jährigen jubiläum bei mir hinterlassen. aber auch seelendruck, weil viele der ausgestellten arbeiten die uns umgebende welt mit einem skalpellblick durchdringen. ich kann das unmöglich in einem beitrag abhandeln, weil ich sonst die würde gegenüber der künstlerischen reflektion vernachlässigen müßte, und weil ich mich obendrein unter einer art schockrausch befinde. beginne ich einfach mit dem ausgestellten acrylgemälde von nina k. jurk, deren arbeit leider wie alle stücke ohne titel in halle 12 zu besichtigen ist sowie dem ölgemälde ‚cloud chamber‘ des irischen malers david o’kane.

blaues-kindverschwommen, nicht weil ich im vorbeigehen geknipst hätte. blauer lichtschein im gesicht eines paralysiert bis wahnsinnig blickenden jungen. die augen ohne linsen und pupillen oder zumindest vollkommen verdreht. vom gesehenen? das lachen wird hinter der linken hand teilweise verborgen. die bildkomposition wirkt bösartig, aggressiv, dunkel und zugleich wie ein sog. links im hintergrund ist ganz unscharf noch ein zweites gesicht zu erkennen, das aus dem bild zu schauen scheint, auf keinen fall aber das kind beachtet. insgesamt erinnert mich die unheimliche szenerie an die stimmung in den büchern von stephen king oder in der mystery-fernsehserie fringe. bestürzend, widerwillen erzeugend und dennoch magisch. ich starrte in etwa so gebannt auf das bild, wie das kind von irgendeinem geschehen auf einem monitor (spielekonsole, computer oder fernseher) gefesselt zu sein schien. wir alle wissen, daß kinder mitunter monströses verhalten an den tag legen. ja, vielleicht monstermedien und monsterkind. das kind ist sich der medialen kontrolle und versuchung nich bewußt. ist es denn der erwachsene mensch immer? sehsucht geboren aus unerfüllten sehnsüchten, so meine zugegeben kunsthistorisch laienhafte sichtweise.

vulkan1das zweite werk, die nebelkammer von o’kane, wirkt nicht minder erschreckend. ein menschliches versuchskaninchen, dessen kopf explodiert ist. aus dem körperrest steigen dunkle rauchwolken empor. um das vereiste podest, auf dem die füße des opfermanns nackt stehen, scharen sich vier kernforscher in schutzanzügen. nur der vordere scheint sich für die explosion zu interessieren, während die anderen drei ratlos nach einem knopf zum abschalten am stuhl oder am rücken des vulkanischen mannes suchen. die überbleibsel des sich entladenden mannes wirken teilnahmslos, füße und hände liegen entspannt gekreuzt übereinander. seine haltung strahlt nach außen hin gelassenheit aus. warum detoniert sein kopf? weil sich ein gefühlsstau entlädt? weil er innerlich ausgebrannt ist von der arbeitswelt, die zu viele opfer von ihm abverlangt (burnout-syndrom)? weil ihm wissenschaftler einen chip implantiert hatten, der einen defekt hatte (the matrix)? ich bin momentan voller unbeantworteter fragen und unruhe. deswegen ziehe ich mich nun zur kontemplation zurück. wenn jemand interpretationsvorschläge hat, sind diese wie immer willkommen.

ich will dir sagen, wieso du hier bist. du bist hier, weil du etwas weißt. etwas, das du nicht erklären kannst. aber du fühlst es. du fühlst es schon dein ganzes leben lang, daß mit der welt etwas nicht stimmt. du weißt nicht was, aber es ist da. wie ein splitter in deinem kopf, der dich verrückt macht. dieses gefühl hat dich zu mir geführt (filmzitat von morpheus aus the matrix).

ausblender

ich habe lange gehadert, ob ich mir angie m. in der baumwollspinnerei in voller länge gebe, also mit eigenen ohren die eröffnungsrede höre, oder ob ich mich dem trubel drumherum entziehe. gegen anwesenheit auf der jubiläumsfeier in leipzig sprachen vor allem: medienrummel (also puschelmikros und kameramänner, die ohnehin jegliche sicht versperren), politische floskelsprache halte ich für zeitverschwendung, und prominentengeile zuschauer jagen mir mit oder ohne zu schauer über den rücken. dennoch hat mich das interesse am grund für den besuch nicht losgelassen. und so habe ich mir gegen meine gewohnheit die berichterstattung auf dem heimatsender mdr als livestream angetan und doch nur zeit verplempert. kuschender kuschelkurs anstelle von kritischem journalismus. es deckt sich mit der erwartungshaltung und ist zu begründen.

mdr sachsenspiegel (20.6., 19.00 uhr) kündigte die frage an, ob merkel nur wegen des wahlkampfs oder doch aus interesse angerückt sei. antwort? keine! angie zeigte sich neben neo rauch, neben stanislaw tillich, mit bertram schulze (geschäftsführer spinnerei), bewunderte das ein oder andere kunstwerk, stellte fragen. mdr aktuell (heute 19.30 uhr, ich kann keine direktlinks zu den sendungen setzen, da sie in der mediathek im moment noch nicht online sind) zeigte den von journalisten umspinnten gast aus anderen blickwinkeln (kameramann 2 und eventuell 3), aber in ähnlichen personenkonstellationen. o-ton merkel zur besichtigung der werkschau: ‚das war ein sehr spannender besuch, sehr eindrücklich. das ist ein sehr inspirierender ort, der hinreichend raum zum nachdenken läßt.‚ spannend, inwiefern? nachdenken, worüber? inspiration, wofür? da hätte man doch gleich die tonspur weglassen können, weil – über kürzungen im kunstbereich kann mal wohl schlecht während des wahlkrampfs laut nachdenken. wer kreuzchen will, muß harmlos tun.

was die fernsehbilder aber komplett ausblendeten und auch die dazu verlesenen beiträge, das wäre ein unangemeldeter zwischenfall während der eröffnungsrede der bundesfrau zu nennen, auf den niemand vorbereitet zu sein schien. ein student nahm sich die freiheit, angies rede mit dem megafon zu übertönen und wies auf den bildungsstreik hin, während eine studentin am podium ein schreiben zu den protesten übergab und dann von einem sicherheitsbeamten weggeführt wurde.

merkel versuchte erst abzuwiegeln („sie können ja gleich den bildungsstreik machen; ich mache jetzt meine rede fertig.“), wandte sich dann aber mit witz an den megafon-redner: „pass mal auf, ich habe hier gerade eine schrift bekommen. wir machen jetzt so eine art friedliche koexistenz: jetzt spreche ich – und dann lese ich.“ am ende ihrer rede sagte sie an die adresse der protestierer, die längst wieder in der menge verschwunden waren: „deutschland weiß, dass es nur eine zukunft hat, wenn wir in unsere bildung investieren. (quelle: lvz online).

kurzzeitig hatte sie wohl ihre contenance verloren, wechselte irritiert vom sie zum du, so perplex war die alleinreden-verwöhnte ob der unterbrechung. auch auf spiegel-online wurde darüber berichtet. aber der mdr, die medialbeglückung der rinderherde, verschwendet lediglich auf der internetseite von mdr aktuell ein paar zeilen. fernsehbilder? ach, wozu?! zumal auf dem podium, hinter dem angie mit einnehmendem lächeln die menge anhimmelte und geschichtskurse in sachen baumwollspinnerei vortrug, sinnreich aufgedruckt war:  125 jahre (in einem kreis) und darunter der schriftzug spinnerei. glücklicherweise dauern wahlperioden für kanzlerinnen auch nur vier jahre. und noch gibt es kein mittel für das ewige leben. was für ein hoffnungsschimmer…

vorsicht! gunst!

wer die oftmals unheilvolle verbindung von politik und kunst vermeiden will und ein hohes aufkommen an sicherheitsbeamten und journalisten eher als lästig empfindet, möge bitte den rundgang in der baumwollspinnerei zum 125. jubiläum am 20. juni auf die späte mittagszeit oder gar gleich auf einen sonntagsausflug verschieben. grund: bundeserste angie m. wird die eröffnung um 10.30 uhr zur freude aller wagnerianer in dessen geburtsstadt leipzig mit einer schönrede bereichern. mediales rauschen garantiert. dafür weniger tiefe aus- als einschnitte (falsche uhrzeit, wirtschaftslage). mal abwarten, ob nicht der eine oder andere künstler die böse miene zur kunstgunst erhebt. ob man sich wohl auf die alte tradition der fassadenaufhübschung vor politikerbesuchen besinnt? denn dann wären diese nackten straßenkünstlerischen tatsachen an einer hauswand auf dem gelände wohl unter einer farbschicht oder einer verhüllung verschwunden.

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kunstkonsum und naturkonsum

in der werkschau ‚¡que viva mexico!‘ der galerie hilario galguera auf dem gelände der baumwollspinnerei in leipzig waren sehr unterschiedliche werke zu sehen, die um das thema leben und tod kreisten, wobei letzteres deutlich überwog. eines der farbenprächtigsten ausstellungsobjekte ist die installation ‚guia de campo‘ (naturführer) von benjamín torres.ausgeschnitten1

torres hat zahlreiche vögel aus einem buch über die fauna von mexiko ausgeschnitten, das buch an einer lindgrünen stellwand befestigt, an der die vögel in schwärmen zu fliegen scheinen. freilich nur von weitem so betrachtet. tritt man näher, sieht man die befestigung mit stecknadeln. aufgespießt wie papierne grillhähnchen.

aufgespiesst die zeichnungen können noch so naturalistisch sein, die vögel wirken dennoch in büchern wie ausgestopft, tot, still, unecht.  die collage unterstreicht diese wirkung. statt sich die vögel in der natur zu betrachten, ihrem gesang zu lauschen, betrachten wir sie uns in einer galerie als kunst in ihrer künstlichkeit. und im hintergrund zwitschern allenfalls besucher gerade per twitter in die welt, was sie gerade machen, denken, fühlen, sehen. manche führen aber auch tiefsinnige gespräche in gestelzter sprache von kunsthistorikern über die möglichen interpretationen.

die werke von torres thematisieren nach eigener aussage immer wieder das verhältnis des menschen zum konsum (‚before anything else, we are consumers‚). in der wievielten abbildungsebene befinden wir uns mit diesen fotos? bereits in der vierten dimension. japaner beispielsweise sieht man eigentlich kaum mit den augen schauen. ihre visualisierung scheint nur noch aus blicken auf und durch displays zu bestehen, die sie vor die und tendenziell das dort gesehene für die wirklichkeit halten. der gelenkte blick, immer an den  sogenannten sehenswürdigkeiten orientiert, die ihr blickfeld einengen. sie wirken ein wenig entrückt, wenn man ihren weg beim stadtrundgang zufällig kreuzt. und während sie mit zoomen und knipsen und filmen beschäftigt sind, verlieren sie die aufmerksamkeit für ihre unmittelbare umgebung.

in einer reportage über die auswirkungen der technisierung  saßen japanische altersheimbewohner an einem runden tisch und streichelten sprechende roboterhunde. fasziniert starrten sie auf ihr spielzeug, von kommunikation untereinander keine spur.

ich habe gerade unglaublich große lust, mich in das hohe gras einer ungemähten wiese zu legen und einfach in den himmel zu starren, mit einem grashalm im mund, auf dem ich herumkaue. nichts hören – außer grillenzirpen und vogelgesang. oder sollte ich mir die naturstimmen-cd bei amazon bestellen? so als surrogat?

kreativer kunstprozeß in der pilotenküche

spinnereigelände

die baumwollspinnerei in leipzig ist eine riesige kunstbaustelle. wenngleich nicht immer mit den besten bedingungen für die dort arbeitenden künstler und galeristen. im atelier eines installationskünstlers mag der aufbaucharakter noch angehen, aber wenn es wie beim armen poeten überall reinregnet, dürfte das äußerst unangenehm für künstler und kreation sein. die baufälligen backsteingebäude wirken dennoch gerade in ihrem unsanierten zustand wie etwas, das vom altern ohne bedauern stumm berichtet.

während in den galerien nur die fertigen kunstprodukte zu sehen sind, wie beim galerierundgang, kann der besucher in der pilotenküche in halle 18 einblicke in den künstlerischen schaffensprozeß erhalten. in den räumen stehen neben staffelei, werkzeugkasten, farben und anderen materialen teilweise auch die betten und schränke von künstlern, die sich für vier monate dort zum arbeiten einquartiert haben. für die ausstellung ‚habidere‘ im frühjahr 2009 waren das markus bacher, tobias hild, stefan maier, christoph mayer (initiator), heike schäfer und eben lutz-rainer müller. das projekt vernetzt regemäßig seit 2007 jeweils drei künstler aus wien und drei aus leipzig für die gruppenausstellungen. 

da es offensichtlich unmöglich war, die entstehung der rußkunstwerke von lutz-rainer müller vor publikum zu präsentieren, ohne dabei ein großaufgebot an feuerwehrleuten in den ausstellungsateliers zu postieren, habe ich leider nur eine geringe vorstellung davon, wie er beispielsweise die nahezu regelmäßigen muster auf wand und papier gebracht hat.

ruß_kunst

freilich wirkt das papier ein wenig lädiert an den blatträndern, gleichwohl ahnt der rezipient etwas von der schönheit des feuers und des rußes. nicht umsonst glotzen viele zu hause in einen kamin und lauschen entspannt dem knistern der verbrennenden holzscheite. die flammen haben in diesem werk, das sich über die gesamte wand bis zur decke des ateliers erstreckte, ihre zerstörerische kraft verloren, die nur einen verkohlten haufen zurückläßt und die erinnerungen. ungeachtet der schönheit würde ich kindern und topfanbrennern dringend von der nachahmung abraten. kunst entsteht nicht automatisch beim kokeln.

russ_torso

an dem loch dieses ruß-torsos kann die rasche hitzeentwicklung bei einem so leicht entflammbaren material wie papier hinreichend studiert werden. oder doch die an funken leicht entzündliche erregbarkeit des menschlichen gemüts? das werk läßt mich an wärmebildkameras denken, obwohl das farbspektrum dort gänzlich anders ausfällt. ein wenig aber auch an narben, verrinnende zeit und an einen menschen mit tigerfell, obschon das auch nur falten und schatten im beckenbereich sein könnten. dazu gesellt sich die erinnerung des geruchs an verbranntes papier. die werke brennen ohne den schrecken der vernichtung, ohne den körperlichen schmerz einer verbrennung, sondern mit der entstehung von sanft-schimmernden schattenbildern aus ruß. sie haben sich in meine erinnerung eingebrannt. und wenn ich mich demenzbedingt irgendwann nicht mehr daran entsinnen sollte, helfen mir vielleicht die fotos auf die sprünge.

und noch mal: nicht zündeln… versprochen!?